Eine Reflexion über All You Need Is Love und die Psychologie der Beziehungen

Ein Rückblick auf Prof. Dr. Gerti Sengers Vortrag am Montag, 10. Februar 2025 im Café Ministerium
(Fotos von Wolfgang Geißler und Wolfgang Menth Chiari)

Von Wolfgang Geißler

Am 25. Juni 1967 wurde Musikgeschichte geschrieben. Die Beatles, damals auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, präsentierten der Welt ein Lied, das bis heute als Manifest der Liebe gilt: All You Need Is Love. Im Rahmen der ersten weltweiten Satelliten-Fernsehübertragung Our World wurde das Stück in 31 Länder gesendet und von mehr als 400 Millionen Menschen gesehen. John Lennon hatte den Song eigens für diesen Anlass geschrieben, und die Botschaft war klar: Liebe ist das Fundament menschlichen Zusammenlebens.

Dieses Ereignis bot Anlass zur Reflexion über die Bedeutung der Liebe in all ihren Facetten. Fast sechs Jahrzehnte später hallt die Botschaft weiterhin nach und verknüpft sich mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie und Paarberatung.

Einleitung durch Prof. Dr. Kurt Tiroch

Prof. Dr. Tiroch begrüßte die Gäste und wies darauf hin, dass das Interesse an der Veranstaltung deutlich höher war als erwartet. Man hatte mit 60 Gästen gerechnet, tatsächlich waren es jedoch weit über 90. Zur Einstimmung erzählte er eine Anekdote über einen Gastronomen, der durch eine Beratung von Prof. Dr. Senger zu einer „glücklichen Scheidung“ fand – eine humorvolle Anspielung auf ihre Expertise in Beziehungsfragen.

Vortrag von Prof. Dr. Gerti Senger

Prof. Dr. Senger hielt keinen klassischen Vortrag, sondern sprach frei über Liebe, Emotionen, Beziehungen, Sehnsüchte, Sexualität und die Herausforderungen des menschlichen Miteinanders.

  1. Beziehungen als zentrales Lebensthema
    • Menschen sind Beziehungswesen und sehnen sich nach Bindung.
    • Beziehungen beinhalten jedoch auch Ängste, Unsicherheiten und Komplikationen.
  2. Langjährige Erfahrung in der Psychologie und Sexualberatung
    • Ihre jahrzehntelange Arbeit mit Paaren zeigt, dass viele Menschen an ihrer eigenen Unsicherheit oder an unrealistischen Erwartungen an die Liebe scheitern.
    • Liebe muss gepflegt werden – sie spricht von einer „Beziehungskultur“ statt „Beziehungsarbeit“.
    • Probleme in Beziehungen entstehen oft durch unbewusste Ängste oder mangelnde Anerkennung.
  3. Das Stachelschwein-Dilemma
    • Eine Parabel von Schopenhauer veranschaulicht, dass Menschen sich Nähe wünschen, aber sich gleichzeitig verletzen können.
    • Das richtige Maß an Nähe und Distanz ist entscheidend für eine gesunde Beziehung.
  4. Liebeskummer und emotionale Abhängigkeit
    • Senger hat intensiv über Liebeskummer geforscht und festgestellt, dass er bei Männern oft kürzer, bei Frauen jedoch intensiver ist.
    • Paradoxe Liebesgefühle entstehen aus frühkindlichen Erfahrungen – Abhängigkeit kann fälschlicherweise als Liebe empfunden werden.
    • Gewalt in Beziehungen ist oft mit dieser Form der Abhängigkeit verbunden.
  5. Selbstliebe vs. Selbstakzeptanz
    • Senger glaubt nicht an das Konzept der reinen „Selbstliebe“, sondern sieht Selbstakzeptanz als wichtiger an.
    • Unrealistische Erwartungen an den Partner („Du sollst mich glücklich machen“) führen zwangsläufig zu Enttäuschungen.

Fragen und Antworten

  1. Sexualaufklärung bei Kindern
    • Durch das Internet haben Kinder heute unbegrenzten Zugang zu sexuellen Inhalten – oft ohne Kontext.
    • Die Herausforderung ist nicht mehr die Informationsvermittlung, sondern die emotionale Einordnung der Inhalte.
  2. Britische Sexualmoral (Now Sex, Please – We Are British)
    • Senger meinte humorvoll, sie könne keine besonderen Unterschiede zwischen Briten und Österreichern in ihrer Sexualität erkennen.
  3. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus ihrer Arbeit
    • Ihr bedeutendster wissenschaftlicher Beitrag war die Erforschung des Verlaufs von Liebeskummer.
    • In anderen Bereichen sind Pauschalaussagen schwierig, da jede Beziehung einzigartig ist.
  4. Moralische Fragen zur Untreue
    • Beispiel: Ein Mann mit pflegebedürftiger Frau – ist es moralisch vertretbar, wenn er sich außerhalb der Ehe sexuelle Erfüllung sucht?
    • Senger zeigte Verständnis für solche Situationen und betonte, dass starre moralische Regeln oft nicht ausreichen.
  5. Buch: Liebe dich selbst und heirate, wen du willst
    • Senger sieht Selbstakzeptanz als wichtiger an als den oft überhöhten Anspruch, sich selbst zu lieben.

Die Liebe als Brücke zwischen Menschen

Das Vermächtnis von All You Need Is Love ist mehr als ein nostalgischer Rückblick auf die 1960er Jahre – es ist eine lebendige Botschaft, die auch in der heutigen Zeit ihre Gültigkeit bewahrt. Liebe verbindet – sei es in Form romantischer Beziehungen oder als universelles Prinzip des Miteinanders. Die Veranstaltung zeigte eindrucksvoll, dass Liebe weder eine naive Vorstellung noch ein leichtfertig verwendetes Wort sein sollte, sondern eine bewusste Entscheidung und ein dynamischer Prozess, der sowohl emotionale als auch kognitive Reflexion erfordert.

Die Psychologie bestätigt, was die Beatles in ihrer Musik ausgedrückt haben: Liebe kann Brücken bauen, Barrieren überwinden und das Fundament für ein erfülltes Leben legen. Vielleicht liegt die Essenz der Liebe nicht nur darin, jemanden zu lieben, sondern auch in der Bereitschaft, sich selbst und den anderen mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen.

Der Vortrag war eine lebendige Mischung aus Anekdoten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Beobachtungen aus der Paartherapie. Prof. Dr. Senger betonte, dass Liebe kein Selbstläufer ist, sondern gepflegt werden muss. Sie ermutigte zu mehr Bewusstsein für Nähe, Distanz und gegenseitige Anerkennung, um erfüllte Beziehungen zu führen.

Der kulinarische Ausklang à la Café Ministerium

Muss ich es ausdrücklich erwähnen? Es war doch selbstverständlich, dass nach dem bereits berühmten Startschuss des Präsidenten – „Das Bier wird langsam warm und die Suppe kalt“ – der offizielle Teil für beendet erklärt wurde und die Kulinarik übernahm. Wie immer gab es ein wunderbares Flying Dinner mit unerschöpflichem Nachschub an Getränken. Café Ministerium eben!

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