Rückblick auf den Vortrag von Mag. rer. soc. oec. Hans Bürger zur Wahlanalyse in der Diplomatischen Akademie am 2. Oktober 2024.

Fotos: Wolfgang Geißler, Wolfgang Buchta, Wolfgang Menth Chiari

Von Wolfgang Geißler

Eine literarische Einleitung

Was bedeutet die Überschrift „Über die Kunst, unbeschadet durch geöffnete Türen zu gehen, ohne dabei zu straucheln“?

„Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“ Mit diesem markanten Satz beginnt das 4. Kapitel des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsachen achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“

Es handelt sich um eine Stelle, in der der Vater, ein fiktiver Strafrechtslehrer, seinem Sohn die „Kunst“ nahelegt, unbeschadet durch offene Türen zu gehen, indem er die soliden Rahmen respektiert. Mit anderen Worten: „Die Achtung der soliden Rahmen einer Tür steht sinnbildlich dafür, sowohl die Begrenzungen der Realität als auch die Möglichkeiten des Denkens und Handelns zu respektieren.“

Was bisher geschah: Es wurde gewählt!

Eine persönliche Zusammenfassung von Wolfgang Geißler

Herbert Kickl als Kanzler? Der Gedanke löst eine seltsame Mischung aus Faszination und Unbehagen aus. Der einstige Redenschreiber, der im blauen Universum zunächst als linker Außenseiter galt, hat sich mit der Präzision eines alten Strategen neu erfunden. Vor dem Stephansdom inszenierte er sich fast messianisch demütig – ein politischer Schauspieler, der genau weiß, wie man die Bühne nutzt. Doch diese Performance, so mitreißend sie auch sein mag, bringt die bitteren Realitäten der österreichischen Politik in den Vordergrund: Eine Wahl zu gewinnen ist das eine, Regierungsverantwortung zu übernehmen eine ganz andere Herausforderung.

Die FPÖ unter Kickl ist eine Bewegung, die sich zunehmend in Verschwörungstheorien und Randgruppenfantasien verstrickt. Kickl müsste – um überhaupt eine Chance auf eine Regierungsbildung zu haben – einige seiner radikalsten Positionen überdenken. Der Widerstand gegen Sky Shield und die Nähe zu jenen Kreisen, die ihn für seine Ukraine-Politik feiern, könnten ihn zum Stolpern bringen. Doch warum sollte er das tun? Für Kickl geht es nicht wirklich um den Staat, sondern um die Partei – und was dieser nützt.

Am Freitag, den 27. September 2024, ereignete sich auf dem Hernalser Friedhof ein viel beachteter Eklat: Bei der Beisetzung des FPÖ-Bezirksrats Walter Sucher wurde das Lied Wenn alle untreu werden gesungen. Das ursprünglich im 18. Jahrhundert entstandene Lied – zuerst von Novalis 1799 thematisiert und 1814 von Max von Schenkendorf als Gedicht veröffentlicht – erlangte während der NS-Zeit besondere Brisanz, da es von der Schutzstaffel (SS) verwendet und adaptiert wurde. Besonders heikel war, dass bei dieser Trauerfeier die SS-Version des Liedes gesungen wurde. Diese unterscheidet sich von der ursprünglichen Fassung durch den Verweis auf das „heilige deutsche Reich“ anstelle von „Kaiser und Reich“ und umfasst nur drei Strophen anstelle von vier. Das Video, das den Vorfall dokumentiert (siehe: https://twitter.com/i/status/1840025718488482066), zeigt anscheinend, dass die SS-Version des Liedes gesungen wurde.

Die Anwesenheit mehrerer prominenter FPÖ-Politiker, darunter Harald Stefan und Martin Graf, verschärfte die politischen Spannungen und führte zu öffentlicher Empörung sowie rechtlichen Anzeigen. Obwohl die FPÖ die Vorwürfe zurückwies, belegt das Video eindeutig die Verwendung der umstrittenen NS-Version des Liedes bei dieser Trauerfeier.

Dass die Jüdische Hochschülerschaft sofort Anzeige erstattete, zeigt, dass die Zivilgesellschaft noch wachsam ist – im Gegensatz zu manchen Kreisen, die sich offenbar im Rechtfertigen von „Treue“ und „Heimatliebe“ verlieren. Die FPÖ zeigt einmal mehr, dass sie nicht nur rhetorisch gefährlich nahe an den Rand des politisch Erträglichen wandelt, sondern diesen immer wieder überschreitet. Und während die SPÖ weiter in sich zusammenfällt und die ÖVP ebenfalls an Zustimmung verliert, könnte es tatsächlich passieren, dass Österreich von einem Kanzler Kickl regiert wird – ein Szenario, das diese Absurdität nur noch grotesker macht.

Österreich befindet sich in einem politischen Dilemma. Die traditionellen Parteien taumeln unsicher, wie sie auf die Erfolge der FPÖ reagieren sollen. Die Grünen, einst die moralische Instanz der Republik, sind durch ihre eigene Hybris und ihren Hang zur Überheblichkeit in der Wählergunst tief gefallen. Die ÖVP, die immer noch das Zentrum der politischen Macht darstellt, hängt an Karl Nehammer fest, dem unvermeidlichen Kanzler, der verzweifelt versucht, die Freiheitlichen im Zaum zu halten.

Und dann ist da noch Andreas Babler, der vergeblich versucht, seine SPÖ auf die Welle des Erfolgs zu hieven, aber in den seichten Gewässern einer sozialistischen Utopie stecken bleibt. Erbschafts- und Vermögensteuern als Allheilmittel, 32-Stunden-Woche als Zukunftsmodell – all das klingt romantisch, aber in der Realität eher schwer umsetzbar.

Inmitten dieser zynischen Politrealität bleibt die Frage offen, ob Herbert Kickl tatsächlich Kanzler werden kann. Der Bundespräsident Alexander Van der Bellen als Garant der Verfassungsmäßigkeit steht vor einem Dilemma: Soll er Kickl mit der Regierungsbildung beauftragen? Oder schließt er ihn aus und riskiert damit, der FPÖ einen weiteren Märtyrerstatus zu verleihen?

Kickl, der ewig Gestrige, ist auf dem besten Weg, der einsame Sieger dieser Wahl zu werden. Seine FPÖ gleicht einer Hydra, die immer wieder aufersteht, befeuert von den Problemen, die andere Parteien ignorieren. Österreichs politische Zukunft hängt an einem seidenen Faden – und niemand weiß so recht, wer diesen letztendlich durchschneiden wird. Dennoch ist zu hoffen, dass die Politik jene Türen nicht vorschnell zuschlägt, die sich nach der Wahl auftun könnten.

Hans Bürger: Die Wahlanalyse

Im stilvollen Ambiente des Musiksalons der Diplomatischen Akademie fand sich ein interessiertes Publikum ein. Unser Vizepräsident, Botschafter Dr. Alexander Christiani, agierte als charmanter Gastgeber und souveräner Moderator. Er führte durch einen Abend, der sowohl Einblicke in die aktuelle politische Lage Österreichs bot als auch mögliche Zukunftsperspektiven beleuchtete. Zu Beginn machte er darauf aufmerksam, dass der Vortrag von Hans Bürger auf Vertraulichkeit basierte und daher die Chatham House Rules einzuhalten seien.

Dr. Christiani verwies auch auf Ernst Florian Winter, den Sohn von Ernst Karl Winter, der nach 1945 erster Direktor der Diplomatischen Akademie Wien war. Er leitete die Akademie von 1964 bis 1968 und spielte eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau und der Modernisierung der Institution in der Nachkriegszeit. In diesem Zusammenhang zitierte Dr. Christiani auch den bekannten Ausdruck von Ernst Karl Winter: „Rechts stehen, links denken“. Diese Aussage verdeutlicht Winters politische Vision, die eine Synthese konservativer und progressiver Ideen darstellte. Er war der Überzeugung, dass man sich in einem konservativen Rahmen bewegen, jedoch sozial und progressiv handeln sollte. Dabei ging es ihm vor allem darum, christlich-soziale Werte mit den Anliegen der Arbeiterbewegung zu verbinden. Sein Ziel war es, politische Lager wie die Christlichsozialen und Sozialdemokraten zu versöhnen und gemeinsam gegen den Nationalsozialismus vorzugehen. Eine zentrale Rolle spielte seine „Österreichische Aktion“, die 1927 gegründet wurde und eine eigenständige österreichische Identität propagierte.

Drei Tage nach der Nationalratswahl analysierte der ehemalige ORF-Analyst Mag. Hans Bürger die Wahlergebnisse mit viel Humor und einem vertraulichen Plauderton. Er stellte sein Buch UND STATT ODER: Ermunterung zu einer Debattenkultur in Grautönen vor, das ich mir umgehend bei Amazon bestellt habe. In diesem Werk thematisiert Bürger die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und das Schwarz-Weiß-Denken, das viele Debatten dominiert. Er verweist auf Themen wie die Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie, den Krieg in Europa sowie wirtschaftliche und soziale Herausforderungen, die zu dieser Spaltung beigetragen haben. Der Essay plädiert dafür, mehr auf das Verbindende zu achten und starre Entweder-oder-Kategorien zu überwinden. Das kleine Wort „UND“ wird als Lösung präsentiert, um den Dialog zu fördernund Brücken zu bauen.

Bürger appelliert an seine Leser, nach einer Dekade der Unversöhnlichkeit wieder eine Debattenkultur zu pflegen, die auf Verständnis, Toleranz und Offenheit basiert. Das Buch wirkt wie ein Plädoyer für mehr Gelassenheit und einen weniger aggressiven Diskurs, besonders in einer Zeit, in der vernünftige Gespräche oft durch Anschuldigungen ersetzt werden. Ein aktueller und zum Nachdenken anregender Appell, der uns über die Art und Weise unserer Kommunikation reflektieren lässt.

In seiner Analyse beleuchtete Bürger die Herausforderungen, die auf die neue Regierung zukommen – von wirtschaftlichen Problemen bis hin zu sicherheitspolitischen Fragen. Er betonte die Wichtigkeit von Zusammenarbeit und Kompromissen, um Österreich stabil in die Zukunft zu führen, und wies darauf hin, dass den Wählern vor allem die Themen Teuerung, Migration und Gesundheit am Herzen liegen.

Besonders hervorzuheben war sein Aufruf zu Vernunft und Pragmatismus in einer Zeit des politischen Wandels. Bürger machte deutlich, dass die kommenden Entscheidungen entscheidend für die Stabilität des Landes sein werden. Was nicht unter die Chatham House Rules fiel, war die humorvolle Enthüllung, dass beide Söhne von Mag. Bürger Rapid-Anhänger sind – was sie mir sofort sympathisch machte. Dr. Christianis Großzügigkeit zeigte sich zudem in der charmanten Geste, Mag. Bürger eine Packung Taschentücher zu schenken, mit dem Hinweis, dass er diese nicht zurückgeben müsse.

Der Abend endete mit einer angeregten Diskussion, bei der die Gäste Fragen stellten und unterschiedliche Perspektiven lebhaft debattierten. Bei Wein und Canapés fanden sich die Teilnehmer anschließend zu vertiefenden Gesprächen zusammen. Ich bedauere besonders jene, die an diesem spannenden und aufschlussreichen Abend leider nicht teilnehmen konnten.

Ein Post-Skriptum zum Abschluss: Seit dem 1. Oktober 2024 wurde das alte „Musikzimmer“ der Diplomatischen Akademie offiziell in „Human Rights Space“ umbenannt.

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